Die Multiple Persönlichkeitsstörung, im Fachjargon häufig als Dissoziative Identitätsstörung (DIS) bezeichnet, ist ein komplexes Störungsbild, das seit vielen Jahrzehnten im medizinischen und psychologischen Diskurs kontrovers diskutiert wird. Wir wollen in diesem Beitrag einen tiefgehenden Einblick in die verschiedenen Ausprägungen, Merkmale und Herausforderungen dieser Erkrankung geben. Unsere Ausführungen konzentrieren sich insbesondere auf Symptome, Ursachen, Diagnoseverfahren und Therapieansätze, um einen möglichst umfassenden Überblick zu schaffen.
Ursprung und historische Entwicklung
Die Vorstellung einer gespaltenen Persönlichkeit ist keineswegs eine moderne Erfindung. Bereits im 19. Jahrhundert tauchten erste Fallbeschreibungen auf, in denen Ärzte und Psychologen über Patienten berichteten, die scheinbar mehrere Identitäten in sich vereinten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus diesen Beobachtungen das heutige Konzept der Dissoziativen Identitätsstörung.
Historisch galt die Multiple Persönlichkeitsstörung lange Zeit als selten. Mit der zunehmenden Professionalisierung der Psychiatrie und besserem Verständnis verschiedener psychischer Störungen kam es jedoch zu einer schrittweisen Neubewertung der Fallzahlen. Heute steht fest, dass traumatische Erlebnisse, vor allem in frühester Kindheit, eine zentrale Rolle in der Entstehung der multiplen Persönlichkeitsstörung spielen können.
Begriffsklärung: Multiple Persönlichkeitsstörung vs. Dissoziative Identitätsstörung
Wir verwenden im Verlauf dieses Artikels oftmals beide Bezeichnungen, obgleich Dissoziative Identitätsstörung (DIS) der in der DSM-5-Klassifikation gebräuchliche Begriff ist. Im deutschsprachigen Raum ist der Ausdruck Multiple Persönlichkeitsstörung nach wie vor sehr bekannt und geläufig, was mitunter für Verwirrung sorgen kann. Grundsätzlich verweisen beide Begriffe auf dasselbe Krankheitsbild, wobei die moderne Klassifizierung im ICD-10 und im DSM-5 eine genauere Beschreibung und Abgrenzung enthält.
Symptome und Erscheinungsformen
1. Dissoziation und Identitätswechsel
Kennzeichnend für eine Multiple Persönlichkeitsstörung ist die Dissoziation, also die Abspaltung verschiedener Aspekte der eigenen Identität, Erinnerungen oder Emotionen. Oft treten verschiedene Persönlichkeitszustände auf, die jeweils eigene Verhaltensmuster, Erinnerungen und Vorlieben aufweisen. Diese sogenannten Alter (von „alternative States of Identity“) können sich stark voneinander unterscheiden. In einigen Fällen ist nur ein minimaler Wechsel in der Persönlichkeit erkennbar, während es in anderen Fällen zu drastisch abweichendem Verhalten, Akzent oder Gestus kommt.
2. Erinnerungslücken und Amnesien
Viele Betroffene leiden unter erheblichen Erinnerungslücken, die sich nicht allein durch Vergesslichkeit erklären lassen. Dies kann von kurzzeitigen Ausfällen einzelner Situationen bis hin zu komplett fehlenden Erinnerungen an bestimmte Lebensphasen reichen. Das Gefühl, in bestimmten Situationen „abgeschaltet“ gewesen zu sein, ist ein typisches Merkmal und trägt oftmals zur Frustration und Verunsicherung der Betroffenen bei.
3. Veränderung von Fähigkeiten und Vorlieben
Einzelne Identitäten können unterschiedliche Fähigkeiten, Interessen und Geschmäcker aufweisen. Es kommt nicht selten vor, dass ein Persönlichkeitsanteil beispielsweise künstlerisch begabt ist, während ein anderer Anteil keinerlei künstlerische Fähigkeiten besitzt. Gleiches gilt für Essensvorlieben, Kleidungsstil oder Umgang mit anderen Menschen. Diese abwechselnden Selbstkonzepte sind oft so deutlich voneinander getrennt, dass Außenstehende verwirrt reagieren, wenn sie nicht über die Hintergründe aufgeklärt werden.
4. Begleitende Symptome
Darüber hinaus können Begleiterscheinungen wie Angststörungen, Depressionen, Selbstverletzendes Verhalten oder posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) auftreten. Häufig kommen Schlafstörungen und Albträume hinzu, die den Alltag zusätzlich erschweren. Körperliche Symptome wie Migräne, Konzentrationsschwierigkeiten oder Übelkeit können ebenfalls in Phasen der Überlastung oder des Stresserlebens auftreten.
Mögliche Ursachen
1. Traumatische Erlebnisse in der Kindheit
Die wohl am besten dokumentierte Ursache für eine Multiple Persönlichkeitsstörung sind schwere traumatische Erfahrungen in der frühen Kindheit. Darunter fallen körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlung sowie Vernachlässigung oder schwerer emotionaler Stress. Unser Gehirn versucht in solchen Situationen, das Erlebte abzuspalten und zu „archivieren“, um die Persönlichkeit zu schützen. Als Konsequenz können sich dissoziative Symptome verstärken und über die Zeit verfestigen.
2. Fehlende sichere Bindung
Kinder, die in einem unsicheren oder instabilen familiären Umfeld aufwachsen, entwickeln oftmals keinen verlässlichen Bindungsstil. Ein Mangel an emotionaler Zuwendung, unberechenbare Bezugspersonen oder das Fehlen einer unterstützenden Struktur können wesentlich zur Entstehung einer Dissoziativen Identitätsstörung beitragen. Für die Ausbildung mehrerer Persönlichkeitsanteile braucht es häufig den Versuch des kindlichen Gehirns, einen Schutzmechanismus gegen das Unerträgliche aufzubauen.
3. Kombination aus Genetik und Umwelt
Auch wenn Veranlagungen eine gewisse Rolle spielen können, gehen wir davon aus, dass genetische Faktoren allein nicht die Ausbildung einer Multiplen Persönlichkeitsstörung bedingen. Vielmehr interagieren erblich bedingte Vulnerabilitäten mit traumatischen Lebensereignissen und sozioökonomischen Stressoren, sodass ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen und psychosozialen Aspekten entsteht.
Diagnoseverfahren
1. Klinisches Interview und Anamnese
Die Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung erfordert eine umfassende psychologische oder psychiatrische Untersuchung. Wir achten dabei auf detaillierte Lebensgeschichten, typische Symptome und erfragen Situationen, in denen Betroffene möglicherweise das Gefühl hatten, Kontrolle über ihr Handeln zu verlieren. Ein offenes und vertrauliches Gesprächsumfeld ist dabei unverzichtbar.
2. Spezifische psychologische Testverfahren
Um die Diagnose zu untermauern, kommen standardisierte Fragebögen oder Interviews wie das Structured Clinical Interview for DSM-5 Dissociative Disorders (SCID-D) zum Einsatz. Diese Verfahren helfen dabei, zwischen verschiedenen dissoziativen Störungen zu unterscheiden und die Schwere der Symptome zu beurteilen.
3. Differentialdiagnose
Vor einer gesicherten Diagnose ist es essenziell, andere psychische Störungen auszuschließen. Dazu zählen beispielsweise Schizophrenie, bipolare Störungen und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Auch organische Ursachen wie Epilepsie oder neurologische Erkrankungen sollten bei auffälligen Verhaltensweisen und Wahrnehmungsstörungen bedacht werden. Wir legen besonderen Wert darauf, eine exakte Differentialdiagnose zu erstellen, um Fehldiagnosen zu vermeiden und eine angemessene Therapie einleiten zu können.
Therapieansätze
1. Psychotherapie als Kernbaustein
Eine der wichtigsten Säulen in der Behandlung der Multiplen Persönlichkeitsstörung ist die Psychotherapie. Spezifische Trauma-Therapieverfahren sowie Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte Therapie kommen hierbei zum Einsatz. Wir verfolgen das Ziel, eine bessere Integration der verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu erreichen und posttraumatische Symptome nachhaltig zu lindern.
2. Traumaintegrierende Verfahren
Bei schwerer Komplextraumatisierung haben sich traumazentrierte Interventionen bewährt. Hierzu gehören Methoden wie Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), Somatic Experiencing oder Hypnotherapie. Diese Ansätze versuchen, die zugrunde liegenden traumatischen Erinnerungen zu bearbeiten und die Erfahrung auf eine Weise zu verarbeiten, die dem Selbstkonzept der Betroffenen Stabilität verleiht.
3. Medikamentöse Begleittherapie
Obwohl es kein spezifisches Medikament zur Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung gibt, können psychotrope Medikamente sinnvoll sein, um Begleitsymptome wie Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen zu lindern. Die Entscheidung für eine medikamentöse Unterstützung hängt vom Gesamtbild ab und sollte stets in enger Abstimmung mit einem Facharzt erfolgen.
4. Stationäre und teilstationäre Angebote
Bei besonders schweren Symptomen, akutem Selbstgefährdungspotenzial oder anhaltenden Krisen können stationäre oder teilstationäre Behandlungsangebote in Anspruch genommen werden. In solchen spezialisierten Einrichtungen arbeiten Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und Pflegekräfte eng zusammen, um eine ganzheitliche Betreuung zu gewährleisten.
Alltagsbewältigung und Selbsthilfe
1. Struktur und Routine
Wir empfehlen Betroffenen, eine möglichst klare Tagesstruktur und Routinen zu etablieren. Dies schafft Verlässlichkeit und kann das subjektive Sicherheitsgefühl stärken. Ein strukturierter Tagesablauf mit festen Ess- und Schlafenszeiten reduziert innere Unruhe und ermöglicht eine bessere Selbstwahrnehmung.
2. Soziales Netzwerk und Unterstützung
Der Aufbau eines stabilen sozialen Netzwerks hat einen hohen Stellenwert. Regelmäßige Gespräche mit vertrauten Personen, Selbsthilfegruppen oder Online-Communities können dabei helfen, Isolation vorzubeugen und das Gefühl der Zugehörigkeit zu stärken. Insbesondere Selbsthilfegruppen für Menschen mit dissoziativen Störungen ermöglichen einen wertvollen Erfahrungsaustausch und die Entwicklung hilfreicher Bewältigungsstrategien.
3. Achtsamkeits- und Entspannungstechniken
Übungen wie Atemmeditation, progressive Muskelentspannung oder Yoga können helfen, Anspannungen zu reduzieren und das emotionale Gleichgewicht zu fördern. Auch einfache Achtsamkeitsübungen, bei denen man sich bewusst auf den eigenen Körper und die Umgebung konzentriert, wirken sich positiv auf das Nervensystem aus und können dissoziative Zustände abmildern.
4. Langfristige Begleitung
Der Weg der Heilung ist oftmals langwierig. Aus diesem Grund ist eine kontinuierliche Begleitung – sowohl in psychotherapeutischer Hinsicht als auch im persönlichen Umfeld – entscheidend. Wir raten Betroffenen, sich trotz möglicher Rückschläge nicht entmutigen zu lassen, sondern in kleinen Schritten ihre Emotionsregulation, ihr Selbstwertgefühl und ihre Resilienz auszubauen.
Prognose und Ausblick
Die Prognose bei Multipler Persönlichkeitsstörung variiert stark. Entscheidend sind frühe Interventionen, das Ausmaß der Traumatisierung und die Qualität der therapeutischen Beziehung. Viele Betroffene erfahren deutliche Verbesserungen ihres Wohlbefindens und ihrer Funktionsfähigkeit im Alltag, wenn sie konsequent Therapieangebote in Anspruch nehmen und auf eine umfassende Eigenfürsorge achten.
Auch wenn eine vollständige Integration aller Persönlichkeitsanteile nicht in jedem Fall erreicht wird, können Betroffene einen zufriedenstellenden Alltag gestalten. Ein tiefes Verständnis für die eigene Erkrankung, das Erlernen konstruktiver Bewältigungsstrategien und das Zulassen von professioneller Hilfe sind zentrale Aspekte, um Lebensqualität zurückzugewinnen.
Fazit
Die Multiple Persönlichkeitsstörung – oder Dissoziative Identitätsstörung – ist ein vielschichtiges Störungsbild, das aus einem Zusammenspiel traumatischer Erlebnisse, fehlender emotionaler Bindung und individueller Vulnerabilitäten entsteht. Die Symptome sind komplex und äußern sich in Unterschieden der Selbstwahrnehmung, Erinnerungslücken und dem Wechsel zwischen verschiedenen Persönlichkeitszuständen. Im Alltag kann dies zu erheblichen Belastungen führen, die sowohl die Betroffenen selbst als auch ihre Angehörigen stark fordern.
Wir gehen davon aus, dass eine sorgfältige Diagnosestellung und ein umfassender Therapieplan für die Behandlung unerlässlich sind. Psychotherapie, traumaintegrierende Verfahren und bei Bedarf eine medikamentöse Begleitung sind die wichtigsten Bausteine, um das innere Erleben zu stabilisieren und eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen. Zentral ist zudem der Aufbau eines stabilen sozialen Netzes, verbunden mit gesunder Selbstfürsorge und Achtsamkeit.
Die Aussichten auf Stabilisierung und ein erfülltes Leben sind umso besser, je früher professionelle Unterstützung in Anspruch genommen wird. Auch wenn der Weg oftmals lange dauert und nicht frei von Rückschlägen ist, stellen wir fest, dass Betroffene mit einer gut abgestimmten Therapie erheblich an Stabilität, Vertrauen und Lebensfreude gewinnen können.
Weitere Informationen:
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